Irrtümer lassen Menschen ganz unterschiedlich sprachlich reagieren. Das ist vor allem auch eine Frage der Generationen, wie Comedian Abdel Karim in einem Ausschnitt seiner Bühnenshow offenlegt. Er hat folgenden Umstand beobachtet, der mich als Phänomenologie und Neurealist wundern durfte. Bevor wir zu Abdel Karims Programmpunkt kommen, vielleicht der Hinweis, warum mich so etwas interessiert.
Der Neue Realismus erkennt an, dass es nicht die eine Wirklichkeit im Sinne von Wahrheit gibt. Was so natürlich klingt, ist es gar nicht. Denn viele Zeitgenossen glauben häufig, alleiniger Inhaber der Wahrheit zu sein. Sie glauben das, weil Sie sich als Wächter der Wahrheit fühlen und nicht damit zurechtkommen, dass es unendlich viele Wirklichkeiten geben kann. Im Rahmen der gesellschaftlichen Verhandlung, wie eine Sache zu sein hat, ist es natürlich selbstverständlich, dass sich Dinge angleichen und manchmal auch normativ vereinbart werden. Ein gutes Gespür dafür zu haben, wie die Dinge laufen, macht uns soziabel und ebnet dem Individuum den Weg für gesellschaftliche Teilhabe. Verhandelt werden in der Regel die Irrtümer, die für das Kollektiv Nachteile bringen oder manchmal auch den Einzelnen in Gefahr bringen könnten. Manchmal ist es auch eine Frage der Generationen, wie ein bisher gültiger Wert neu vereinbart wird. Das Überwinden solcher Irrtümer ist gesellschaftliches Prinzip.
Abschied oder Begrüßung?
Abdel Karim will beobachten haben, dass junge Menschen sich vorzugsweise eines Abschiedsgrußes bedienen, wenn sie sich von etwas distanzieren. Da zeigt ein Freund seine neue Hose für 200 EUR und drumherum hört man: »O.K. Tschau!« Junge Menschen verabschieden sich also eher von einer Idee oder einem Umstand, wenn sie es persönlich als Irrtum einstufen.
Ältere Menschen, so der Comedian, nutzen statt der Abschiedsfloskel eher eine appellierende Begrüßung, um ihren Unmut zu zeigen. Gleiches Beispiel. Ein teures Kleidungsstück wird präsentiert und drumherum hört man ein empört vorgetragenes: »Hallo?«.
Woran liegt das? Stimmt das überhaupt? Ist die Nutzung der unterschiedlichen Phrasen, um sich zu distanzieren, eine Frage des Alters? Warum soll das überhaupt interessant sein? Schauen wir uns das mal genauer an.
Abschied und Begrüßung als Ausdruck Verwunderung lässt einen Rückschluss auf die Richtung der inneren Haltung zum präsentierten Gegenstand zu. Abschied heißt, ich gehe weg. Begrüßung heißt, ich gehe drauf. Also auf die Sache los. Begrüßung dient der Empörung. Abschied der Distanzierung. Man könnte auf die Idee kommen, mithilfe der Generation zu erklären, warum das so ist. Ich denke, es hat vor allem mit der inneren Verfassung in der jeweiligen Situation zu tun. Auch der Gegenstand oder Sachverhalt dürfte eine wesentliche Rolle spielen. Eine Hose ist vielleicht etwas anderes als das Verhalten einer anderen Person. Beides Mal kann man sich gut vorstellen, dass ein »Hallo?« oder das »O.K. tschau!« eingesetzt werden kann. »Hallo?« transportiert für mich eine Forderung. »Krieg Dich mal ein!« oder auch »Hey, erkennst Du den Irrtum?«. Los, »erkenne Deinen Irrtum«. Ein »O.K. Tschau!« distanziert sich ad hoc zur Option, sich überhaupt mit dem Irrtum auseinandersetzen zu wollen.
Gesellschaftliche Bedeutung
Das »O.K. tschau!« klingt natürlich nach Jugendsprache, ist aber eigentlich nichts anderes als ein »da bin ich raus!« oder »ohne mich!«. Der innere Abschied und der Aufbau von Distanz zu einer Sache korreliert sich nicht mit dem Alter, auch wenn das bei Abdel Karim lustig klingt. Das »Hallo?« als Ausdruck der Verwunderung ist letztlich ein Weckruf, der die natürliche Distanz zu einer Sache mithilfe der Empörung überwinden will. Auf eine Sache draufzugehen oder in jemanden, der uns mit einem seltsamen Verhalten verwundert einzudringen, kann dabei helfen, eine Sache noch einmal zu überdenken.
Je weiter etwas von der Norm entfernt ist oder wenn das Verhalten eines von der Herde abtrünnigen Menschenkinds korrigiert werden soll, dient das »Hallo?«, um nicht nur darauf aufmerksam zu machen, dass der Irrtum korrigiert gehört. Das »Hallo?« transportiert auch die Hoffnung, dass das gelingen kann. Es ist Ausdruck eines Nudgings, jemand auf den rechten Pfad zu bringen.
Ein »O.K. tschau!« verweist auf die Machtlosigkeit, die Sache oder ein Verhalten durch Einfluss verändern zu können. Wenn die Hose im Beispiel oben für 200 EUR angeboten wird, dann ist das eben so. Pech, wer darauf hereinfällt. Not My Business. Nicht meine Wirklichkeit. Ich habe es nicht in der Hand, also muss ich es auch nicht im Kopf mit mir herumtragen. »Tschüss!«
Wenn die Hose zwar teuer, aber aufgrund ihrer Einzigartigkeit als Sache interessant bleibt, dient das »Hallo?« vielleicht dazu, den Abstand zu verringern. Die Person denkt womöglich darüber nach, ob sie den Preis doch akzeptieren kann und übermittelt mit dem »Hallo?« mehr oder weniger auch ein Kompliment an den Hosenträger ausdrücken.
Sehr wahrscheinlich sind beide Ausrufe sehr verbreitet, und zwar in allen Generationen. Die Kombination, worum es eigentlich geht und ob es von der Norm der eigenen Peer-Group abweicht, lässt den Ausrufer wählen, ob es sich von einer Sache persönlich distanziert oder draufgeht, um eine Korrektur des Irrtums beim anderen einzufordern.
Egal, was Abdel Karim mit seiner Sequenz erreichen wollte. Seine Zuhörer brachte es zum Lachen und mich zum Nachdenken, wie interessant unsere Sprache, die Kommunikation unter Menschen oder allgemein der Dialog in kontextueller Situation sein kann. Das Gespräch bleibt zudem immer auch ein Wagnis.
Schlussfolgerung und Neuer Realismus
Um an den ersten Teil des Beitrags anzuknüpfen, will ich trotzdem einen gewissen Überhang bei Distanzierung zu einer Sache erkennen. Also in unserer Zeit. Das wirft vielleicht doch wieder die Frage nach der Generation auf. Wer anerkennt, dass es unendlich viele Wirklichkeiten gibt, hält es für klug (im Sinne von vernünftig), sich von einer Wirklichkeit der Anderen zu distanzieren. Tschüss. Altvordere Generationen tun sich bis heute schwer damit, Dinge so zu belassen, wie sie sind. Allein das Thema Diversität lässt ältere Menschen eher aus der Stresstoleranz kippen als jüngere Zeitgenossen. Usus war und bleibt vorrangig für Menschen im höheren Alter der Umstand, die Dinge angleichen zu wollen. Unterschiedliche Wirklichkeiten wurden früher eher mit einem konformistischen Appell belegt. Sich anzupassen, gehörte zum guten Ton und wir alle kennen das aus den unterschiedlichen Situationen, in denen wir täglich stecken. Ein feierlicher Gottesdienst ist nicht Fußball und Stadion. Ein Besuch im Restaurant ist nicht der Teller Nudel in Jogginghose auf dem Sofa.
Der Neue Realismus ist deshalb ratsam, weil die gelebte Anerkennung der Wirklichkeit der Anderen uns selbst mental entlastet. Wenn mich die Wirklichkeiten der anderen jedes Mal aufhorchen lässt oder ich mich an ihnen abarbeite, wird das auf Dauer anstrengend. Wenn ich jedoch akzeptiere und tolerant genug bin, die Wirklichkeiten der Anderen eher zu akzeptieren, hat das Auswirkungen auf mein Menschenbild. Ich benötige keine ideologischen Rezepte mehr, mich mit anderen zu vergleichen, um zu prüfen, ob jemand zu meiner Gruppe gehört. Ich bin ich, und der Andere ist ein Anderer. Umso besser, wenn wir uns verstehen. Mögen, können wir uns auch mit den Irrtümern. Zu viele dürfen es vielleicht nicht sein. Aber die Irrtümer immer nur bei den Anderen suchen, ist kein guter Ratgeber.
Wer seine Irrtümer pflegt, anstatt Ihnen beizukommen, darf und wird damit leben müssen, dass andere diese Wirklichkeit einseitig hinterfragen. So ergeben sich ungefragt Schlussfolgerungen, die zwar einseitig und damit unvollständig sein können, aber ihre rekursive Wirkung auf den Irrtumsverdacht nicht verfehlen. Deshalb darf man selbst an seinen Irrtümern arbeiten, ohne so etwas von anderen andauernd zu verlangen. Besser ist, einen beim Anderen erkannten Irrtum nicht noch zu übernehmen, sondern sich davon zu distanzieren. Wo mit guten Argumenten ein Silberstreif am Horizont möglich ist, dient manchmal auch ein »Hallo?« Ein »O.K. Tschau!« ist manchmal der bessere Weg. In diesem Sinne.