Dieser Beitrag ist ursprünglich auf XING News erschienen.
Eigentlich wollte ich schon einmal Anfang 2019 mit Martin Tschirsich sprechen. Kurz zuvor hatte er auf der 35C3 des Chaos-Computer-Clubs über die Gesundheitsakte Vivy fachlich versiert hergezogen. Wir hatten danach kurz über XING Kontakt. Zu einem Gespräch kam es leider noch nicht.
Damals fokussierte sich der Diskurs rund um den Austausch von Gesundheitsdaten zwischen Gesundheitseinrichtungen und Patient:innen vor allem auf die Insellösungen wie Vivy. Diese Vorhaben waren weniger dafür gedacht, diffuse Marktchancen zu erobern, als vielmehr die politische Lufthoheit bei diesem Thema zu erobern. Die diebische Freude des ehemaligen Bundesgesundheitsministers Daniel Bahr beim Barbecue am Abend nach der Vorstellung von Vivy bleibt mir bis heute in bester Erinnerung. Es drang herüber, dass sich Jens Spahn nach der Vorstellung Jens Spahn bei einem anderen Sommerfest zu einer öffentlichen Stellungnahme hinreißen hatte lassen.
Vivy wurde damals innerhalb rund 11 Monaten gebaut. Danach entbrannte vor allem ein Streit über Methoden unter Nerds. Bei den Menschen, die solche Gesundheitsakten nutzen sollten, war das Thema weder kulturell und schon gar nicht technisch noch lange nicht angekommen. Was dann folgte, wissen wir alle. Das DVG nahm den Gesundheitsakten die Legitimation. Die elektronische Patientenakte (ePA) bekam von der Politik den Vorzug. Teile der Projekte rund um Gesundheitsakten blieben erhalten. Jede Krankenkasse bietet heute ihr eigenes Frontend auf Basis neuer Vorgaben der Gematik, deren Mehrheitsanteile fast zeitgleich mit dem Ende der Gesundheitsakten an das Bundesgesundheitsministerium gingen.
Was die Digitalisierung so schwer macht
Martin Tschirsich sprach jetzt vor dem Parlamentarischen Begleitgremiums COVID-19-Pandemie vor Abgeordneten und brachte dabei die beiden zentralen Probleme vor, die seines Erachtens zum Scheitern der Digitalisierungsbemühungen im Deutschen Gesundheitswesen führen. Über die Sitzung berichtete die Ärztezeitung.
Das Fehlen sauberer Infrastrukturen und sicherer Schnittstellen ist die Hauptursache, dass die Digitalisierung des deutschen Gesundheitswesens derzeit nicht reibungslos über die Bühne geht.
Damit ist ausreichend beschrieben, dass das Problem tiefer liegt, als in einzelnen Schlupflöchern heute nicht mehr existenter Gesundheitsakten. Der politische Wille, die Digitalisierung voranzutreiben, hat zwar mittlerweile gegriffen. Doch der trifft zunehmend auf die Versäumnisse der Entwicklungen in der IT-Infrastruktur in den Gesundheitseinrichtungen.
In den nächsten Jahren steht das Gesundheitssystem vor immensen Herausforderungen. Hinsichtlich eines post-pandemischen Umbaus und dessen Finanzierung. Die eklatanten Versäumnisse – vor allem auch in den Gesundheitseinrichtungen – werden mit darüber entscheiden, ob eine Arztpraxis, der Standort eines Krankenhauses gehalten werden kann. Ich prognostiziere, dass neben dem altersbedingten Ausscheiden vieler Hausärzte eine weitere Frage hinzutritt. Schaffe ich den Anschluss an eine zeitgemäße IT. Betreue ich diese selbst oder überwinde ich tradierte Glaubenssätze und transformiere die eigene Gesundheitseinrichtung in die Cloud? Erste PVS-Anbieter sind dort schon angekommen, genießen jedoch noch nicht die Akzeptanz, die nötig wäre. Auf sich verweigernde Arztpraxen wartet dann ein Aufwand, den sie selbst noch gar nicht einschätzen können und der die eigene Existenz infrage stellen könnte.
Die elektronische Patientenakte wird beispielsweise von einzelnen Kassenärztlichen Vereinigung sabotiert. Das Kompetenzfeld IT wird in einer Arztpraxis meist durch Dienstleister besetzt, die häufig keine Spezialisierung vorzuweisen haben und deshalb die Besonderheiten zukünftiger Entwicklungen im Bereich Health-IT selbst nicht überblicken. Hinzu kommt ein internationaler Druck auf das Deutsche Gesundheitswesen. Gerade erst ist durchgesickert, dass Google Health neu startet. Nicht nur als App auf Smartphones, sondern als Cloud-Infrastruktur in Zusammenarbeit mit Health Providern. Zunächst nur in den USA, doch gleich mit KI-Anwendungen, die die Gesundheitsversorgung auf neues Level heben könnte. Häufig genug entwickeln sich globale Standards aus liberaleren Märkten heraus. Und auch wenn wir in Deutschland das Vermögen aufbringen sollten, diese Entwicklungen auf Abstand zu halten; Antworten auf infrastrukturelle Fragen dieser Größenordnung werden die Entwicklungen hierzulande stärker beeinflussen. Vor allem, wenn der Diskurs die Elfenbeintürme verlässt und die Menschen beginnen, Fragen zu stellen, warum anderswo auf der Welt Quantensprünge erzielt werden.